Kleine Schwester? – Große Schwester!

Sachverhalt:

Die Konfliktpartei 1 (KP1) hat bereits vor einigen Jahren gemeinsam mit ihrem Bruder (KP2) das Haus ihres Vaters geerbt. Seither hat die erwachsene Tochter des Bruders, also ihre Nichte, in diesem Haus zur Miete gewohnt und einen günstigen Sonderpreis an die KP1 und ihren Bruder (KP2) gezahlt. Nun soll das Erbe aber endgültig abgewickelt werden, was der KP1 und ihrem Bruder Schwierigkeiten bereitet. Die KP1 fragt eine Mediation an.

KP1: Schwester
KP2: Bruder

Verlauf der Mediation:

Die KP1 schildert der Mediatorin den Sachverhalt am Telefon. Sie wirkt sehr irritiert und überfordert mit der Situation der Erbabwicklung. Die KP1 zeichnet ein Bild ihres Bruders (KP2), das ihn überlegen wirken lässt. Laut ihren Erzählungen möchte ihr Bruder, dass seine Tochter das Haus kauft und weiter darin wohnen bleibt. Wegen des Alters des Hauses sind der Bruder und seine Tochter überzeugt, dass der Kaufpreis gering ausfallen muss. Nach dem Kauf würden sie es gemeinsam renovieren. Die Tochter ist Architektin und hat bereits große Pläne, ihr Bruder (KP2) nimmt sich selbst auch als Experte für Immobilien wahr, da er schließlich mehrere Häuser besitzt und die Arbeiten daran immer selbst durchführt. Die KP1 schildert, dass in Gesprächen mit ihrem Bruder immer wieder Sätze wie „Vertrau uns da!“ und „Wir sind schließlich vom Fach!“ fallen. Sie fühlt sich dadurch unwissend und ihrem Bruder unterlegen. Außerdem befürchtet sie, zu wenig aus dem Verkaufserlös zu erhalten, da das Haus nach der Renovierung durch ihre Nichte viel mehr Wert sein wird.

Im Gespräch mit der KP1 arbeitet die Mediatorin mit einer Metapher: Die KP1 und ihr Bruder (KP2) kochen eine gewisse Menge an Nudeln. Das Ziel ist, dass am Ende jeder von ihnen gleich viele Nudeln auf dem Teller hat. Die Nudeln stehen symbolisch für das Haus, das aufgeteilt werden soll. Durch die Metapher wird der KP1 bewusst, dass es rational betrachtet nur darum geht, das Haus zwischen ihr und ihrem Bruder zu teilen. Beide wollen ihren Anteil daran haben. Die KP1 erkennt, dass die Tochter des Bruders zunächst nichts mit der Aufteilung zu hat. Die Aufteilung zwischen ihr und ihrem Bruder ist unabhängig davon, was in Zukunft mit dem Haus passieren wird. Der KP1 wird auch bewusst, dass ihre Rolle in der Familie im Kontakt mit ihrem Bruder noch immer stark von der Kindheit geprägt ist. Sie ist die jüngere Schwester, der Bruder tritt sehr stark und allwissend auf. Die KP1 bemerkt, dass sie in eben diese Rolle der kleinen, unwissenden Schwester zurückfällt, sobald sie mit ihrem Bruder spricht, obwohl sie mittlerweile eine erwachsene, selbstbewusste und selbständige Frau ist.

Ergebnis/Lösung:

Die KP1 spricht mit dieser veränderten Sichtweise und einer jetzt neu gewonnenen selbstbewussten Haltung nochmals mit ihrem Bruder (KP2). Sie konzentriert sich dabei nur auf das Thema der Aufteilung des Hauses. Beide äußern den Wunsch einer fairen Aufteilung. Sie einigen sich darauf, gemeinsam einen Sachverständigen für das Haus zu beauftragen, der den Wert feststellen soll. Danach wollen die Geschwister nochmal ins Gespräch gehen und eine gerechte Veräußerung entweder an die Tochter des Bruders oder auch an einen anderen Käufer vereinbaren.

Kommentar:

Die Nudel-Metapher scheint im ersten Moment recht einfältig und plakativ. Dahinter steckt jedoch ein klares Kalkül: Erstens, wird durch die Verbildlichung einer alltäglichen Handlung ein komplexer Sachverhalt verständlich und annehmbar dargestellt. Die KP1 klärt dadurch für sich, was sie wirklich will – nämlich eine faire finanzielle Aufteilung des Erbes. Zweitens stößt diese Metapher einen Verhandlungsprozess nach dem HARVARD-Prinzip an. Diesem liegt die klare Trennung zwischen der Sache (hier: das Haus) und den Emotionen / Bedürfnissen der Parteien zugrunde. Insbesondere bei Erbmediationen dient dieses Prinzip dazu, den Konfliktparteien Klarheit in die verworrenen Bindungen zwischen der Erbsache (Haus) und den dazugehörigen Emotionen und Bedürfnissen (z.B. faire Aufteilung; Wunsch, der eigenen Tochter ein zu Hause zu bieten; alte Geschwisterrollen; etc.) zu geben. Wenn diese Trennung vollzogen ist, erlangen die Parteien wieder einen klaren Blick, und können Optionen finden, auf deren Basis sie dann eine gute Lösung verhandeln.