Rote Karte für die Schülerin

Sachverhalt:

Die Tochter der Konfliktpartei 1 (KP1, Mutter) ist zwölf Jahre alt und besucht die sechste Klasse einer Oberschule. Vor längerer Zeit wurde bei ihr – genauso wie bei ihrem um zwei Jahre älteren Bruder – ADHS diagnostiziert. Die beiden Kinder sind auf die entsprechenden Medikamente eingestellt, dennoch zeigen sie ADHS-typische Verhaltensweisen wie Konzentrationsschwierigkeiten und Impulsivität. Als die Tochter der KP1 eines Tages mit einem zweiwöchigen Schulverweis nach Hause kommt, ist diese völlig von der Rolle. Sie wendet sich nach reichlicher Überlegung an eine Mediatorin, um den Konflikt mit der Schulleitung (KP2) zu verhandeln.

KP1: Mutter KP2: Schulleitung KP3: Klassenlehrerin

Verlauf der Mediation:

Die Mutter schildert der Mediatorin im ersten Telefonat ihre Not und erzählt zunächst aus Sicht ihrer jüngeren Tochter, wie es zu deren Schulverweis kam: Während des Unterrichts hatte ihr Tochter mit ihrem Sitznachbarn gesprochen, woraufhin die Klassenlehrerin (KP3) sie ermahnte und einen Schulverweis androhte. Die Schülerin fühlte sich ungerecht behandelt, da ihr Sitznachbar ja das Gespräch begonnen hatte und nun ihr aber der Verweis drohte. Die Klassenlehrerin ließ eine Klärung der Situation jedoch nicht zu. Als die Schülerin erneut äußerte, dass sie sich ungerecht behandelt fühlte, setzte die Lehrerin ihre Drohung um und sprach mündlich einen Schulverweis aus.


Die Mutter schildert weiter, dass sie selbst versucht habe, diesen mündlichen Schulverweis rückgängig zu machen. Sie telefonierte sowohl mit der Klassenlehrerin (KP3) als auch mit der Schulleitung (KP2). Nach den Telefonaten hatte sie das Gefühl, die Angelegenheit hätte sich damit erledigt. Kurz darauf jedoch brachte die Tochter den endgültigen schriftlichen Verweis nach Hause.
Im Gespräch mit der Mediatorin ist die Mutter sehr aufgeregt und verzweifelt, zumal sie alleinerziehend und selbständig berufstätig ist. Sie sieht keine Möglichkeit, ihren Beruf und das Home-Schooling ihrer jüngsten Tochter unter einen Hut zu bringen. Dazu kommt, dass sie um die schulische und auch emotionale Zukunft ihrer Tochter bangt, da diese bereits während der Corona-Zeit unter dem virtuellen Lernmodus litt und einige Lücken einbüßen musste.


Geduldig und aufmerksam hört die Mediatorin den Schilderungen der Mutter zu und spiegelt ihre emotionale Lage. Diese wird dadurch ruhiger und kann Stück für Stück klarer denken. Gemeinsam besprechen die Mediatorin und die Mutter, welche Schritte nun möglich sind, um den Konflikt zu entwirren und einer Lösung näher zu kommen. Sie einigen sich darauf, dass die Mediatorin als nächstes mit der Schulleitung und mit der Klassenlehrerin spricht und beiden eine Präsenzmediation vorschlägt. Sowohl die Schulleitung als auch die Klassenlehrerin stimmen sofort einer Präsenzmediation zu. Diese findet aufgrund der Dringlichkeit des Themas nur wenige Tage später statt.

Ergebnis/Lösung:

In der Präsenzmediation steht die 3. Phase des Mediationsverfahrens im Mittelpunkt des Prozesses. Nach der Klärung des Rahmens (Phase 1) und der Definition des zu besprechenden Themas (Phase 2), führt die Mediatorin die Parteien behutsam in die Beleuchtung ihrer eigenen Interessen (Teil 1 von Phase 3). In dieser sogenannten Selbstklärung erforschen die Parteien, was genau hinter ihren Standpunkten steht und welche Motivationen sich dahinter verbergen. Darauf aufbauend lädt die Mediatorin die Parteien dazu ein, vorsichtig auf die Interessen der anderen Parteien zu schauen (Teil 2 von Phase 3). Die Parteien loten aus, welche Interessen und Bedürfnisse sie von den jeweils anderen Parteien nachvollziehen können. Dieser sogenannte Perspektivwechsel ist das Herzstück der Mediation. Durch das gegenseitige Verständnis öffnet sich plötzlich ein weiter Lösungsraum.


Auch in dieser Mediation gelingt der Perspektivwechsel:

Die Schulleitung beteuert, dass ein großes Missverständnis vorliege – der Schulverweis war ohne Rücksprache mit ihr ausgesprochen worden. Die Schulleitung sieht, dass die Mutter unter dieser misslichen Situation sehr leidet. Die Klassenlehrerin erkennt an, dass sie hinsichtlich des Verweises vorschnell gehandelt habe. Sie entschuldigt sich bei der Mutter und bei der Schulleitung. Auch die Mutter erkennt an, dass die tägliche Schularbeit mit ihrer Tochter alle Beteiligten vor größere Herausforderungen stellt und bedankt sich für deren unermüdlichen Einsatz.
Nach dem Perspektivwechsel gehen die Parteien in eine kreative Lösungssuche (Phase 4) und kommen schließlich darüber ein, dass der Schulverweis rückgängig gemacht wird. Außerdem werden sie mit den Schüler*innen klare Verhaltensregeln erarbeiten. Konflikte sollen künftig offen angesprochen und geklärt werden, indem jede Sichtweise geschildert werden darf. Auch die Zusammenarbeit der Schule mit der Mutter soll hinsichtlich der ADHS-Diagnose ihrer Tochter verbessert werden. Diese Ergebnisse halten die Parteien in einer Abschlussvereinbarung fest (Phase 5).

Kommentar:

Auch in den starr erscheinenden Strukturen eines Schulapparats gibt es Verhandlungsspielraum. Durch die lösungsorientierte Gesprächsführung der Mediatorin wurde schnell der Weg in eine Präsenzmediation bereitet, in welcher die Konfliktparteien sehr gute Lösungen im Sinne der Schülerin erarbeiteten.