Eiseskälte nebenan

Sachverhalt:

Seit drei Generationen dauert das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen der Familie des Konfliktpartei 1 (hier: Nachbar) und der Familie der Konfliktpartei 2 (hier: Nachbarin) an. Über Jahrzehnte hinweg haben beide Familien ein freundschaftliches Miteinander gepflegt und sich gegenseig bei den Herausforderungen ihrer Gärntereibetriebe unterstützt. Nachbar (KP1) war sehr gut mit dem Ehemann der Nachbarin (KP2) befreundet, bis dieser sie vor vielen Jahren in jungem Alter plötzlich verließ. Die Nachbarin befand sich damals mit vier kleinen Kindern jäh in einer prekären Situation, sodass der KP1 und seine Familie ihr mehrmals wohlwollend halfen, bis die Kinder erwachsen waren. Das Verhältnis zwischen den Nachbarn hat sich im Laufe der letzten Jahre jedoch drastisch verschlechtert. Zahlreiche Konflikte tummeln sich entlang der Grundstücksgrenzen. Ob Baumschnitt, Grenzbebauung, Reinigung der Abwasserschächte oder Regenrinnen und daraus resultierendem Wasser im Keller – die Liste ist lang und das Schweigen der Nachbarin eisern. Der KP1 ist ratlos, da er keine Gesprächsbasis mehr mit seiner Nachbarin findet, um die Konfliktthemen zu klären. Er fürchtet, dass die Bausubstanz seiner Gärtnerei aufgrund des Konfliktes marodiert. Daher wendet er sich an eine Mediatorin.

KP1: Nachbar                                        KP2:  Nachbarin

Verlauf der Mediation:

Im ersten Telefonat mit dem Nachbar erfährt die Mediatorin von der langen Geschichte beider Nachbarsfamilien, die sich bedauerlicherweise in ein konfliktives Verhältnis entwickelt hat. Jegliche Versuche des KP1, ein klärendes Gespräch mit der Nachbarin zu führen, beantwortete diese mit Schweigen. Auch für die Mediatorin wird die Kontaktaufnahme mit der Nachbarin zur Herausforderung. Schließlich gelingt es ihr, mit einem ihrer erwachsenen Söhne ins Gespräch zu kommen. In mehreren intensiven Telefongesprächen schöpft der Sohn Vertrauen in die Mediatorin und setzt sich erfolgreich dafür ein, dass diese schließlich direkten Kontakt mit seiner Mutter aufnehmen kann.
Die Mediatorin erfährt im Gespräch mit der Nachbarin, dass diese seit Jahren ein tiefer Gram quält. Der Nachbar, so schildert sie, habe vor langer Zeit eines ihrer Gewächshausfenster mit einem Stein eingeschlagen. Sie habe es jedoch nie geschafft, den Nachbar darauf anzusprechen und ihm ihre Wut auszudrücken. Stattdessen habe sie sich zurückgezogen und all die anderen „Schikanen“ des Nachbarn ertragen. Dabei nennt sie beispielsweise, dass er einfach ihr Grundstück betritt, um seine Dachrinnen zu reinigen.


Die Mediatorin dankt der Nachbarin für diese Offenheit. Gemeinsam mit ihr bespricht sie die Möglichkeit einer Aussprache vor Ort. Die Nachbarin ist einverstanden, wenn auch ihr Sohn mit dabei sein kann. Auch der Nachbar und seine Frau sind mit der Durchführung einer Präsenzmediation einverstanden.


Als die Mediatorin den Hof des KP1 betritt, spürt sie trotz sommerlicher Temperaturen die frostige Kälte, die zwischen den Parteien herrscht. Mit unverfänglichen Fragen zur Umgebung beginnt sie das Gespräch und taut damit die eisige Stimmung etwas auf. Mit Unterstützung der Mediatorin schildert die Nachbarin schließlich die Geschichte mit dem eingeschlagenen Fenster. Der Nachbar und seine Frau erschrecken darüber und sagen, dass ihnen dieses Missgeschick wohl bei Mähen passiert sein müsse, ohne es je bemerkt zu haben. Ein Stein könne durch den Traktor aufgewirbelt und gegen das Fenster geschleudert worden sein. Der Nachbar und seine Frau entschuldigen sich dafür und sichern zu, das Fenster zu ersetzen. Eine erste Erleichterung macht sich breit.


Die Nachbarin zeigt jedoch bezüglich der anderen Themen des Nachbarn kaum Interesse. Dass der er und seine Frau Probleme mit der Reinigung der Abwasserschächte haben und aufgrund ihrer Tröge, die direkt auf der Grenze stehen, nun Wasser im Keller haben, scheint sie nicht sonderlich zu beeindrucken. Als sich die Aufmerksamkeit jedoch auf den Pavillon lenkt, den die Nachbarin direkt auf die Grenze gebaut hat und aus brandschutzgründen dort nicht stehen dürfte, kommt Bewegung ins Spiel. Der Nachbar bietet direkt an, dass die Nachbarin den Pavillon stehen lassen könne, wenn sie sich darauf einlasse, Lösungen für alle anderen Konfliktthemen zu finden. Die Nachbarin willigt schließlich ein. Der Pavillon ist ihr sehr wichtig und daher ein schweres Gewicht, das nun in der Waagschale liegt.

Ergebnis/Lösung:

Die Parteien finden zurück auf eine sachliche Verhandlungsebene und klären alle strittigen Themen. Darunter befinden sich Lösungen zur Position der Tröge, zum Betreten des jeweiligen Nachbargrundstücks zur Reinigung von Abwasserschächten und Dachrinnen, Regelungen für das Rückschneiden von Pflanzen und auch der Tausch eines Quadratmeters Grundstück, um für beide Parteien einen besseren Zugang zur eigenen Grenzbebauung zu erhalten. Die Parteien verpflichten sich auch dazu, offene Gespräche zu führen, falls es wieder zu konfliktiven Themen kommen sollte.

Kommentar:

Der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl definiert heiße und kalte Austragungsformen von Konflikten. Die heiße Austragungsform ist in ihrem Extrem geprägt von hoher Emotionalität, von expressiver und leidenschaftlicher Hingabe, sich für die eigenen Position einzusetzen und diese vehement zu verteidigen.
Typisch für die kalte Austragungsform in ihrem Extrem ist ein langes, passives Dahinschwelen des Konflikts, bei dem sich (mindestens) eine Konfliktpartei abkapselt und sich gegenüber der anderen Partei in Schweigen hüllt. Angriffe werden verdeckt durchgeführt – beispielsweise durch Sabotage oder durch Unterschlagung relevanter Informationen. Oftmals leugnen Konfliktparteien mit kalter Austragungsform auch, dass es überhaupt einen Konflikt gibt.
Wichtig ist zu betonen, dass keine Austragungsform besser oder schlechter ist. Beide Temperaturen können, je nachdem wie stark sie ausgelebt werden, sehr schmerzvoll für die andere(n) Konfliktpartei(en) und auch für Dritte sein.

Manchmal ändert sich die Temperatur eines Konflikts während dessen Austragung – d.h. ein heißer Konflikt kann erkalten und ein kalter Konflikt kann sich erhitzen. Glasl definiert dabei drei Subtypen von Konflikten und benennt diese nach geographischen Regionen (nicht jedoch aufgrund der dortigen Einwohner*innen):

„Grönland“ steht für eine dominant kalte Austragungsform

„Sizilien“ steht für eine dominant heiße Austragungsform

„Island“ steht für eine Mischung aus „heißen Eruptionen“ und einem darauffolgenden „Erkalten“


In der Mediation ist die Austragungsform eines Konflikts ein ständiges Thema. Je nach Temperatur der Austragungsform benötigen die Konfliktparteien unterschiedliche Unterstützung der Mediatorinnen.

In vorliegenden Fall hat die Nachbarin den Konflikt kalt ausgetragen. Für sie war eine lange, vertrauensbildende Vorarbeit der Mediatorin notwendig, um das Eis langsam schmelzen zu lassen. Erst dann war es für sie möglich, offen über den Konflikt zu sprechen. Außerdem war für die Nachbarin ein ernsthafter Anreiz (hier: der Pavillon) nötig, um sich von ihrer Passivität zu lösen und sich aktiv in die Konfliktbearbeitung einzubringen.
Parteien, die einen Konflikt heiß austragen, brauchen in der Regel erstmal etwas Abkühlung – beispielsweise durch Einzelgespräche, über Methoden des Stressabbaus oder durch einen sicheren Rahmen, indem sie ihrer Emotionalität – auch laut – Ausdruck verleihen können.


Wenn kalte und heiße Austragungsformen aufeinandertreffen, wird es besonders spannend. Für Mediatorinnen stellt jeder Konflikt ein eigenes Klimaphänomen dar, das es zunächst zu erkunden gilt, um die Konfliktparteien bestmöglich abzuholen und zu unterstützen.